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Pflanzen sind ein süßes Schmerzmittel gegen Nostalgie

Wer gärtnert, kümmert sich im Hier und Jetzt um ein Stückchen Erde – und sei es noch so klein. Ljudmila Belkin, die wir bereits durch ihre Video-Essay-Reihe ‚Die Gärtner und ihre Gärten‘ kennen, kam 1994 aus der Ukraine nach Deutschland. In ihrem Text ‚Das Gärtnern als De-Archivierung‘ nähert sie sich literarisch der heilsamen Wirkung vom Arbeiten mit Erde und Pflanzen.

Die Archivierung ist … gebunden an die Unveränderbarkeit. (Wikipedia)

Das Gärtnern als De-Archivierung

Durch die Nostalgie schlagen bereits die Züge der Aufdringlichkeit durch. Ihr melodramatischer Rettungsring entpuppt sich als eine Betonwand, die mich von der Gegenwart abriegelt, von der Welt der – „fremden“ – Dinge: Das „Meine“ ist in den fernen Gegenden der Vergangenheit unwiderruflich geblieben, hat aufgehört, ein Ding zu sein.

Die Dinge der Vergangenheit sind symbolisch geworden. Sie bewohnen die Realität der erinnerten Landschaften, von denen ich träume. Der „heimatliche“ Boden der Erinnerung und der Träume besteht ganz aus Illusion.

Doch der, zu meinen Füßen, der ist ein Handlungsfeld. Befreit vom Schmerz der Nostalgie, motiviert durch die nostalgischen Interessen, gehe ich zu den Gärtnern. Von ihnen trete ich mit den Stecklingen heraus: mit den nostalgischen und neuen; mit solchen, die nach der Erinnerung gekauft wurden und anderen, die mein heutiger Geschmack sind. Alles – junge Pflanzen. Dinge.

Dem Bild der Vergangenheit ist es erlaubt, zu mutieren. Mehr noch, es ist ihm erlaubt, das strenge Archiv zu verlassen und vergessen zu werden: Das wachsende „Meine“ ist jetzt in meinen Händen.

Ljudmila Belkin, Frankfurt, 2010 – 2013

Der Gärtner wächst mit seinen Pflanzen

Die Beschäftigung mit Pflanzen erdet und sie kann Brücken bauen durch den Austausch mit anderen. Wir haben uns mit Ljudmila Belkin über die inspirierende Kraft des Gärtnerns unterhalten.

Ljudmila Belkin über die heilsamen Kräfte und soziale Bedeutungen des Gärtnerns (Foto: Alexandra Vetter)

Frankfurter Beete: Die Miniatur vom Gärtnern als Akt der De-Archivierung thematisiert einen typischen Zwiespalt von Menschen, die an einem neuen Ort heimisch werden wollen oder auch müssen, den nostalgischen Blick in die Vergangenheit. Ist dieser Blick zurück tatsächlich so hinderlich?

Belkin: Dieser Blick ist sogar ein gesundes Muss! Doch die Nostalgie ist kein einfacher Blick zurück. Sie ist das Verlangen, die abgerissene Vergangenheit bei sich zu haben. Je nach Intensität wächst die Gefahr, sich in der Erinnerung zu verlieren und sich der umgebenden Realität zu verweigern. Doch es ist möglich, hier und jetzt zu leben, der Realität von heute ein Gewicht zu geben und sich nicht ständig an den süßen Bildern der Vergangenheit zu berauschen.

Frankfurter Beete: Das Ich im Text findet seine Medizin in der Beschäftigung mit dem Gärtnern. Warum haben Pflanzen und die Arbeit mit Erde eine so heilsame Wirkung?

Belkin: Pflanzen sind eine wachsende Medizin. Kein Gärtner will, dass seine Pflanzen verkümmern. Daher beschäftigt er sich mit ihnen und entwickelt sich selbst durch sie. Die Wirkung eines Gartens geht dabei über seine Grenzen hinaus. Der Gärtner braucht eine Gärtnerei oder sogar mehrere; er ist am Erfahrungsaustausch mit anderen Gärtnern interessiert. Nicht nur der Garten, sondern der Bekanntschaftskreis belebt sich durch das Gärtnern.

Frankfurter Beete: Alle Pflanzen, die in der Bildergalerie auf dieser Seite zu sehen sind, finden sich auf Ihrem Balkon. Welche davon sind typische Erinnerungspflanzen und warum?

Belkin: Eine typische Erinnerungspflanze meines Gartens ist der Sauerampfer. Er steht für die Erinnerungen an das Oma-Dorf im mittleren Streifen Russlands. In einer stockdunklen Nacht backen die Dorfkinder und Kinder aus dem zugewanderten „Zigeuner-Tabor“ Kartoffeln im Feuer und essen sie mit grobem Salz und dem wilden Sauerampfer, der drum herum wächst. Bei mir wächst der Sauerampfer im Bauhauskasten. Da hat sich die Begeisterung für die Urban Gardening-Bewegung in die heiligen Erinnerungen eingemischt.

Frankfurter Beete: Sie haben sich im vergangenen Jahr bei den Gemeinschaftsgärtnern vom Ginnheimer Kirchplatzgärtchen engagiert. Welche Rolle spielt der Austausch, das aktive Miteinander, für das Ankommen in einer Gesellschaft? Was können Gemeinschaftsgärten in diesem Zusammenhang leisten?

Belkin: Es ist nicht so sehr das Ankommen in einer Gesellschaft – es gibt keine statische Gesellschaft, in die sich jemand eingliedert –, sondern das Auskommen miteinander, das eine Rolle spielt. Davon gibt es viele Formen. Nehmen wir als ein Beispiel aus dem gärtnerischen Leben die Tauschbörsen, die auf gemeinsamen Interessen gründen. Es werden Pflanzen, aber auch nationale Gerichte mitgebracht, die den anderen gefallen oder schmecken, auch deswegen, weil die emotionale Situation einladend ist. Das ist die unkomplizierteste Form des Austauschs. Eine andere Form ist das Aushandeln von Kompromissen bei gegensätzlichen Positionen, das die Beteiligten im besten Fall näherbringen kann. Diese Lösungssuche ist für mich der Inbegriff des Miteinanders, die durch das Denken an den Anderen das Miteinander immer wieder aufs Neue schafft. Das Auskommen beinhaltet auch die Zusammenarbeit mit der Stadt, in der die Verantwortung für die städtische Landschaft zwischen der Stadt und ihren Bürgern geteilt wird. Und nicht zuletzt ist das urbane Gärtnern eine neue Einflussgröße in der kulturellen Infrastruktur, etwa wenn das Gärtnern mit künstlerischen oder sozialen Motiven eine Symbiose eingeht. Der Gemeinschaftsgarten wird dann zum Wegbereiter für einen gesellschaftlich umfassenden Migrationsprozess.

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